Seit Mitte der 1990er-Jahre befassen Sie sich mit dem medizinischen Einsatz von Cannabis. Wie hat sich die medizinische Nutzung von Cannabis und Cannabinoiden seit dem „Cannabis als Medizin“-Gesetz im Jahr 2017 entwickelt?
Dr. med. Franjo Grotenhermen
Arzt und Autor
Das “Cannabis als Medizin”-Gesetz hat zu erheblichen Verbesserungen bei der medizinischen Verwendung von cannabisbasierten Medikamenten in Deutschland geführt. Alle niedergelassenen Ärzte dürfen seither Cannabisblüten und Cannabisextrakte verschreiben. Unter bestimmten Voraussetzungen müssen auch die Krankenkassen die Kosten übernehmen. Allerdings gibt es erhebliche Probleme bei der Umsetzung des Gesetzes.
Daher haben bereits im April 2021 Experten aus Medizin sowie Mitglieder des Deutschen Bundestags von FDP, SPD, Grünen und Linken in einem Positionspapier auf Erleichterungen bei der Verwendung von Cannabis als Medizin gedrängt. Problembereiche umfassen unter anderem hohe Kosten für Medizinalcannabisblüten, Regressdrohungen gegen Ärztinnen und Ärzte, sodass viele vor einer Verordnung zulasten der gesetzlichen Krankenkassen zurückschrecken, hohe Ablehnungsquoten bei einem Antrag auf Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen sowie kaum öffentlich geförderte Forschung, obwohl die limitierte klinische Forschungslage bei vielen Indikationen allgemein beklagt wird.
All diese Missstände führen dazu, dass in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern sowohl die absolute Zahl derjenigen Patient*innen, die legalen Zugang zu cannabisbasierten Medikamenten haben, gering ist als auch die Entwicklung in den letzten Jahren deutlich langsamer verlaufen ist.
Inwiefern unterscheiden sich die gewünschte Wirkung und Einnahmeform von Cannabis und Cannabinoiden bei medizinischem Gebrauch und Freizeitkonsum?
Grundsätzlich unterscheiden sich die Wirkungen von Cannabis bei der medizinischen Verwendung und beim Freizeitkonsum nicht. Fast alle medizinischen Sorten stammen von bekannten Kultivaren ab, wie etwa Gorilla Glue, Ghost Train Haze, Master Kush oder White Widow, die in Deutschland bisher nur illegal erhältlich waren. Es gibt nur wenige neue Genetiken.
Die Unterschiede betreffen andere Aspekte. Dazu zählt der Anbau der Blüten und daraus hergestellter Extrakte nach arzneimittelrechtlichen Ansprüchen. Dabei wird von GMP (Good Medical Practice) gesprochen, die beispielsweise die Verwendung von Pestiziden und bakteriellen Verunreinigungen ausschließen sowie eine Standardisierung auf die Gehalte der wesentlichen Cannabinoide THC und CBD sicherstellen. Da es sich um ein Naturprodukt handelt, gibt es von Charge zu Charge leichte Schwankungen der
Cannabinoid-Gehalte, die jedoch in der praktischen Therapie keine relevante Rolle spielen.
Zudem werden Cannabisblüten im Rahmen der medizinischen Therapie vorwiegend mit einem Verdampfer (Vaporisator) eingenommen, und es gibt eine ärztliche Begleitung der Therapie.
Welche medizinischen Indikationen hat sich in den letzten Jahren die Anwendung von Cannabis und Cannabinoiden als erfolgversprechend erwiesen?
Es gibt vor allem fünf große Indikationsbereiche:
- Chronische Schmerzen: Migräne, Cluster-Kopfschmerz, Phantomschmerzen, Neuralgien, Menstruationsbeschwerden etc.
- Psychische Erkrankungen: Depressionen, Angststörungen, bipolare Störungen, posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Syndrom), etc.
- Neurologische Erkrankungen: Spastik, Muskelkrämpfe, Muskelverhärtung bei Multipler Sklerose und Querschnittslähmung, Tourette-Syndrom, Dystonie, Schlafstörungen etc.
- Chronisch-entzündliche Erkrankungen: Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Morbus Bechterew, rheumatoide Arthritis etc.
- Appetitlosigkeit und Übelkeit bei Krebserkrankungen, Krebschemotherapie, HIV/Aids etc.
Häufig wirken Cannabis und Dronabinol gleichzeitig auf mehrere Symptome einer Erkrankung.
Was ist das Ziel, wenn medizinisches Cannabis eingesetzt wird?
Im Allgemeinen ist es das Ziel der Therapie, die Krankheitssymptome zu lindern, so wie dies bei den meisten anderen Medikamenten der Fall ist, die bei chronischen Erkrankungen eingesetzt werden. Dadurch soll die Lebensqualität verbessert und eventuell die Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt werden. Im Rahmen der Krebstherapie mit Cannabinoiden können diese eventuell die Heilungschancen durch Standardtherapien verbessern.