Liebe Melanie, du bist Adipositas-Betroffene. Wie kam es zu dieser Diagnose und welche Symptome trägt dies mit sich?
Bis man die Diagnose erhält, dauert oft sehr lange – zu lange und bevor man sie akzeptiert, dauert es noch länger. Ich bekam sie vor 22 Jahren und keiner konnte mir den Unterschied erklären, zwischen „einfach fett“ zu sein und Adipositas zu haben. Es war erst einmal ein Wort, mit dem ich nichts anfangen konnte. Adipositas = fettleibig.
Adipositas hat so erstmal keine Symptome, wie man es von anderen Erkrankungen kennt. Sie wächst mit einem, ist eher schleichend und jeder hofft: das geht mit Diät und Sport weg, doch wenn nicht, dann liegt es an mir. Bei Adipositas funktioniert gerade das nicht! Ergo versucht man es immer und immer wieder, weil man nicht schuld sein will, disziplinlos, dumm, faul oder all die anderen Dinge, die man von Anderen an den Kopf geknallt bekommt. Denn diese Aussagen machen uns oft zusätzlich auch noch seelisch krank, wodurch man depressiv wird oder im schlimmsten Fall sogar Angststörungen entwickelt. Wenn es dann noch ganz „Dicke“ kommt und man quasi nicht mehr der „Norm“ entspricht, muss man – neben all den Dauerbelastungen wie Knorpel- und Knochenschäden, Atemnot oder aufgerissener Haut – sich auch noch anhören, warum man nicht vorher daran gedacht oder etwas unternommen hat.
Heute würde ich sagen, es ist unterlassene Hilfeleistung unserer Gesellschaft. Adipositas ist sehr kompliziert und die Medizin ist noch lange nicht am Ende mit der Erforschung dieser Erkrankung. Wenn man zum Hausarzt geht, fehlen bisher oft die Möglichkeiten, Menschen mit Adipositas oder Menschen mit anderen Gewichtsproblemen zu unterscheiden und zu behandeln. Dies wird sich hoffentlich in den nächsten 2 Jahren durch ein „DMP Adipositas“ ändern, welches Betroffene auf Anfrage von den Krankenkassen angeboten bekommen.#
Inwiefern schränkt diese Erkrankung dich in deinem Alltag ein?
Meine Erkrankung veränderte mein Leben. Ich kann viele Dinge nicht so tun, wie ich gerne möchte. Ich muss viel mehr planen, auf mehr Dinge achten, muss häufig mehr Vorwürfe ertragen – ganz egal, ob sie mich kennen oder nicht, ob es ein Betrunkener, ein Kind oder ein Studierter ist. Das macht leider keinen Unterschied. Alltägliche Umstände werden schwieriger wie bspw. der Autokauf, bei dem ich mein neues Auto erst einmal anprobieren muss. Zudem können oder wollen mich Ärzte manchmal nicht behandeln, weil sie die richtige Ausstattung nicht besitzen. Ich passe oft nicht in Stühle rein und muss aktiv bitten und mich erklären, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Es ist schwerer, in so einem Körper zu leben.
Leider werden über sämtliche Medien immer wieder Idealbilder vermittelt, an welche sich die Gesellschaft anpassen soll bzw. will. Wie reagiert dein Umfeld bzw. die Gesellschaft auf deine Erkrankung?
In meinem alten Umfeld war es oft so, dass alle mich ermutigen wollten, abzunehmen, ganz nach dem Motto: Kilos weg, Fall gelöst, alles ist tuffig! Nur wenn man es wieder und wieder macht und alles nichts nützt, schwenkt die Motivation oft in Mitleid um. Ich will aber niemandem leidtun, denn das drückt für mich aus, dass ich nicht gleichwertig bin.
Mein jetziges Umfeld weiß, dass ich eine ganz normale Frau bin, die mit ihrer Erkrankung lebt und versucht, aktiv im Leben zu bleiben, solange mir mein Erkrankungszustand es erlaubt. Sie haben Spaß mit mir, ich bin eine von ihnen und nicht mehr „die andere Dicke“ da. Aber es war ein langer und schmerzhafter Weg dahin, der aus mir letztendlich die Melanie machte, die viele kennen. Fremde reagieren oft mit Unverständnis auf mich, sind frech, gar grenzüberschreitend und verletzend. Eigentlich all das, was man als wohlerzogener Mensch nicht machen sollte. Sie werfen einem ungefragt ihre Meinung oder Diättipps an den Kopf, was für mich seelische Gewalt ist, die viele Traumata verursacht. Und als wäre dies nicht genug, nehmen sie einen in bzw. auf den Arm, lächeln einen an und sagen Alibi-Sätze wie „Ich meine es doch nur gut mit dir!“, „Sei mir nicht böse, es ist nur zu deinem Besten!“ oder „Du brauchst diesen Arschtritt mal!“. Oder wie finden Sie die Frage: „Du hast so ein liebes Gesicht, aber was ist mit dem Rest?“? Ich bin doch auch noch ein Mensch! Leider nehmen das nicht viele ernst oder wahr.
Wie versuchst du gegen Adipositas anzukämpfen?
Ich kämpfe nicht! Ich lebe mit meiner Erkrankung und lerne, wie man sie behandeln bzw. in den Griff bekommen kann, dass ich so lange wie möglich aktiv am Leben teilnehmen kann.
Kämpfen ist Gewalt und Gewalt hat man in der Regel genug erfahren. Es ist ein Gewinn schon nicht zuzunehmen, nur leider fühlt es sich für viele Betroffene oft an, als würde man verlieren, weil man immer Siegen/Gewinnen muss. Ich gewinne, wenn ich lange lebe und viele schöne Dinge erlebe. In meinem Leben ist kein Platz mehr für Kampf! Adipositas ist noch nicht heilbar, aber es ist behandelbar.
Du bist Vorstandsvorsitzende des Adipositaschirugie-Selbsthilfe-Deutschland e. V. – wie versuchst du, den Menschen damit zu helfen? Was möchte der Verein bewirken?
Wir als Verein setzen auf Aufklärung über die Erkrankung und über die Behandlungsoptionen, die uns aktuell zur Verfügung stehen, möchten Versorgungslücken aufzeigen und Verbesserungsvorschläge machen. Aber wir möchten auch zuhören, Mut geben, Informationen patientengerecht aufarbeiten und ÄrztInnen, Behandelnde, PolitikerInnen und EntscheiderInnen zusammenbringen, um für die Betroffenen die Welt etwas Adipositas freundlicher zu machen.
Was möchtest du den Menschen mitgeben, die ebenso von Adipositas betroffen sind?
Was ich anderen Betroffenen gern mitgeben würde: Du bist nicht schuld an deiner Erkrankung.
Gib dich nicht auf, denn man kann Einfluss auf den Krankheitsverlauf nehmen.
Hab keine Angst – es gibt mehr Betroffene, als du denkst.
Trau dich auch mal Informationen zu holen oder besuche eine Adipositas Selbsthilfegruppe.
Lebe dein Leben in deinen Möglichkeiten und denk dran, dass du ein toller Mensch bist, welcher mit einer Erkrankung lebt.
Hab Mut, hab Vertrauen und hab Hoffnung!