Warum mechanismenorientierte Therapiekonzepte, wie Operationen und Pharmakotherapien, nur bedingt geeignet sind, der Chronifizierung zu begegnen
PD Dr. Michael A. Überall
Präsident Deutsche Schmerzliga
Traditionell werden Schmerzen in der Medizin in sog. akute Ereignisse (d.h. unangenehme Sinnes- und/oder Gefühlsempfindungen, die mit einer akuten oder möglichen Gewebsschädigung einhergehen oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben werden) und sog. chronische Verlaufsformen (d.h. Schmerzen, deren Dauer über das Ausmaß einer akuten Ursache und deren Heilungsphase hinaus nicht nachvollziehbar lange anhält) unterteilt, wobei dieser Differenzierung der Glaube zugrunde lag, dass beiden unterschiedliche pathophysiologische Mechanismen zugrunde liegen.
Zwischen beiden Formen wird üblicherweise die sog. Chronifizierung verortet – ein mystischer Prozess, in dessen Folge sich vorübergehende akute Schmerzen in anhaltende chronische Schmerzen weiterentwickeln (wobei als Ursache eine gestörte Schmerzverarbeitung, aufgrund eines Ungleichgewichts zwischen Schmerzverstärkung und Schmerzhemmung unterstellt wird, und individuelle Besonderheiten – wie z. B. genetische, umweltbedingte und biopsychosoziale Faktoren – Risiko, Ausmaß und zeitlichen Verlauf der Chronifizierung bestimmen). Chronische Schmerzen werden medizinisch somit als Ergebnis eines Übergangs von akuten zu anhaltendem Schmerzen verstanden und alle medizinischen Verfahren zielen darauf ab, akute Schmerzen rasch und vollständig zu lindern, um dadurch die pathophysiologisch unterstellte Entwicklung hin zu chronischen Schmerzen zu lindern bzw. im Idealfall aufzuhalten.
Neuere Studien zeigen nun, dass dieses etablierte Konzept nur bei einem klein(er)en Teil der Menschen mit chronischen Schmerzen wirklich eine Rolle spielt, denn auf die Frage, wann ihre chronischen Schmerzen begonnen haben, geben – über verschiedene Untersuchungen hinweg – nur ein Drittel bis ein Viertel der Betroffenen ein akutes Ereignis bzw. einen definierten Zeitpunkt an, während die große Mehrheit einen schleichenden Verlauf dokumentiert. Diese und viele weitere Untersuchungen lassen vermuten, dass der tatsächliche kritische Prozess keine Entwicklung von akuten zu chronischen Schmerzen ist (der immer neuer operativer oder medikamentöser Therapien bedarf), sondern vielmehr ein (mitunter durch ein akutes Ereignis getriggerter) Übergang von einem subklinisch (latent vorbestehenden) chronischen Schmerzzustand zu einem aktiven, klinisch sichtbaren chronischen Schmerzzustand.
Diese Erkenntnis erfordert ein Überdenken bestehender Konzepte zu Definition und Entstehung chronischen Schmerzen, den diesem Gedanken folgend sind beide nur Punkte eines längeren Kontinuums lebensbegleitender plastischer Prozesse des zentralen Nervensystems ist, deren Verlauf durch genetische Veranlagung und epigenetische Prozesse individuell stark variieren können.
Vor diesem Hintergrund wirft naturgemäß die Sinnhaftigkeit der zunehmend steigenden Zahl operativer Eingriffe wegen Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule zahlreiche Fragen auf.
Pathophysiologisch macht es offensichtlich wenig Sinn mit aller operativer Macht „den einen Tropfen“ zu behandeln, der im übertragenen Sinn das Fass zum Überlaufen brachte. Ein Ansatz, der insbesondere auch durch die mit 95,5% extrem hohe Zahl negativer Bewertungen der medizinischen Sinnhaftigkeit schmerzbedingter Wirbelsäuleneingriffe bei fast 10.000 Patienten im Rahmen standardisierter Zweitmeinungsverfahren in Deutschland unterstrichen wird.
Deutsche Schmerzliga (DSL) e.V.
Seit 33 Jahren für Menschen mit chronischen Schmerzen: ehrenamtlich, unabhängig, transparent und kompetent.
Menschen mit chronischem Schmerz sind sehr viel mehr als nur Leidtragende mit dem Kardinalsymptom Schmerz. Ihr Leiden manifestiert sich im Grenzbereich von Körper und Seele und bedarf einer individualisierten ganzheitlichen Therapie unter Anerkennung der unzertrennlichen Ganzheitlichkeit und Selbstbestimmung. Hilfe zur Selbsthilfe – so wie es die Deutsche Schmerzliga nun seit 33 Jahren Menschen mit chronischen Schmerzen durch ihre vielfältigen Aktivitäten bundesweit anbietet – gehört deshalb zu den wichtigsten Hilfsangeboten für einen Weg zurück ins Leben.