Fotograf Karsten Thormaehlen über des Menschen kostbarstes Geschenk: Das lange Leben.
Solange wir uns in unserem engsten Umfeld gefordert und gebraucht fühlen, empfinden wir Lebensfreude oder -lust.
Foto: Hendrik Warda
Wie kam es dazu, dass Sie sich auf die Fotografie der Schönheit des Alters spezialisiert haben, und was fasziniert Sie besonders an den gewählten Motiven?
Das Interesse, ältere Menschen zu fotografieren, erwachte in mir, während meiner Zeit als Zivildienstleistender in einem Altenheim. Damals fotografierte ich noch nicht sehr lange, fand es aber interessant, einerseits die vielfältigen Aktivitäten der Bewohnerinnen und Bewohner, wie Gymnastikrunden, Bastelnachmittage und gemeinsame Ausflüge, andererseits auch die stillen, bewegenden Momente zwischen an Demenz erkrankten alten Menschen und Pflegenden im Stile einer Fotoreportage zu dokumentieren. Daraus entstand eine Ausstellung, die den bezeichnenden Titel »Alt? – na und!« trug und eindrücklich Einblicke in Lebensrealitäten gewährte, die für die allermeisten von uns in ferner Zukunft liegen. Das Besondere dabei ist die zwischenmenschliche Atmosphäre, die bei den Fotoshootings entsteht. Die alten Menschen fühlen sich »gesehen« und respektiert, manche sogar ein wenig geschmeichelt, sie genießen es, dass ihnen Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegengebracht werden, daher wirken sie authentisch, es macht die Fotoshootings zu einem gegenseitigen Geben und Nehmen. Was den älteren Menschen während der Fotosession, allen anwesenden Beteiligten und natürlich mir selbst auch noch Jahre später immer wieder große Freude beim Betrachten der Bilder bereitet.
Welche Botschaft streben Sie durch Ihre Arbeit bezüglich der Schönheit des Alters an, und hat sich Ihr Blick darauf im Verlauf Ihrer Karriere verändert?
Alles fließt. Alles entsteht, verändert sich, vergeht. Dieses überall gültige Naturgesetz haben wir in Bezug auf das Leben bzw. uns Menschen mit einem Begriff belegt, den wir zu Unrecht in negativen Kontext setzen: dem Altern. Ich finde »erblühen«, »reifen«, »sich entwickeln« sind viel schönere Bezeichnungen – und sie beschreiben auch das, was wir mit Schönheit, besser unserem ästhetischen Empfinden, in Verbindung bringen. Ob wir etwas schön oder hässlich finden, ist oft von unterschiedlichen Parametern abhängig: Der Lebensphase, in der man gerade steckt, der persönlichen oder kulturellen Prägung, oder aber auch so etwas wie dem Zeitgeschmack. Ich denke, dass sich die »Schönheit des Alters« am besten mit einer gewissen Ausgeglichenheit bzw. Harmonie von äußeren und inneren Merkmalen beschreiben lässt. Wir finden, dass jemand gut gealtert ist, wenn wir uns mit dieser Person identifizieren können, wir sagen können, so möchten wir auch einmal sein oder auf unsere Mitmenschen wirken: ausgeglichen, zufrieden, entspannt, aber auch empathisch, interessiert und engagiert.
Haben Sie von den Menschen, mit denen Sie durch Ihre Arbeit in Kontakt treten, Tipps und Tricks zum gesunden Altern erhalten?
Die Formel zum »ewigen Leben« hat man bisher nicht finden können. Man kennt und findet immer wieder weitere Puzzleteile, die zum einen in unserer Genetik begründet liegen, zum anderen bei entsprechender Lebens- und Ernährungsweise, den Alterungsprozess verlangsamen können, was tatsächlich seit geraumer Zeit zu einem kontinuierlichen Anstieg der allgemeinen Lebenserwartung führt. Ich denke aber, dass ein entscheidender Faktor zu wenig Beachtung findet: die seelische bzw. psychische Gesundheit. Schon der griechische Dichter Hesiod (ca. 700 v. Chr.) wusste, dass »Menschen im Unglück schneller altern.« Heute wissen wir, dass übermäßiger Stress zu Depressionen und Suchtkrankheiten führen kann, die wiederum das Risiko an Diabetes oder Demenz zu erkranken, erhöhen. Wir Menschen sind soziale Wesen, das heißt solange wir uns in unserem engsten Umfeld gefordert und gebraucht fühlen, empfinden wir so etwas wie Lebensfreude oder -lust. Wir freuen uns auf den nächsten Tag, auf die nächste Begegnung oder Aufgabe, die es zu bewältigen gilt. Ein Mensch, der ein Alter von 100 Jahren erreicht hat, hat dieses Glück erfahren dürfen, bewusst oder unbewusst hat er meist die »richtigen« Entscheidungen getroffen, hat Schicksalsschläge nachhaltig innerlich verarbeiten können.
Um Ihre Vision auf Bildern darzustellen, haben Sie spezielle Hilfsmittel oder Techniken?
Bei den ersten Fotosessions mit über Hundertjährigen überlegte ich mir ganz genau wie ich eine Porträtserie erschaffen kann, die beliebig erweiterbar ist, dabei aber originell und zeitgemäß wirkt. Ich wollte nicht auf den einen Moment hoffen, weil ich wusste, dass der sich mit Menschen, die ich zum ersten Mal treffe, manchmal nur schwer erzeugen lässt. Also porträtierte ich die alten Menschen so, wie sie es aus ihrer eigenen Kindheit kannten: vor einem neutralen Hintergrund auf einem Stuhl sitzend, die Kamera auf einem Stativ vor ihnen, von einer einzigen Lichtquelle illuminiert: einem Fenster, durch das seitlich weiches Tageslicht fällt, vornehmlich um die Haut, die Falten und alle feinen Nuancen auf ansprechende Weise einzufangen. Bis heute verwende ich dazu am liebsten eine altes Hasselblad-Mittelformatgehäuse mit einem modernen, digitalen Rückteil. Die Digitalfotografie hat den großen Vorteil, dass ich sofort sehe, was ich produziere, und meinen »Models« ihre Bilder unmittelbar auf dem Laptop zeigen kann und wir das jeweils beste zusammen aussuchen können.
Möchten Sie selbst 100 werden?
Selbstverständlich! Wenn man, wie die allermeisten über Hundertjährigen, die ich getroffen habe, das Leben als Wunder oder kostbares Geschenk betrachtet, das sich gegen die Zeit und das unendliche Nichts im Universum stemmt, sollte man am besten sofort anfangen bewusster und nachhaltiger zu leben, jeden Tag und jede Tätigkeit, die einem selbst und vor allem anderen Freude bereitet, genießen. Erstaunlicherweise ist es nie zu spät ungesunde Gewohnheiten abzulegen oder sich sinnvoll einzubringen. Während meiner Begegnungen habe ich Menschen getroffen, die mit über 100 Jahren das Rauchen aufgegeben oder Vorträge vor begeistertem Publikum gehalten haben. Unser Geist sowie auch unsere Organe sind erstaunlich robust und regenerationsfähig, wenn man bereit ist seine Lebensweise – manchmal nur ein wenig – zu ändern. Ich weiß aber auch aus eigener Erfahrung, gerade zu jedem Jahreswechsel, wie schwierig es ist, gute Vorsätze umzusetzen und vor allem durchzuhalten.
Alle Fotos stammen von Thormaehlen und sind in seinem Buch “Young at Heart”, Steidl 2022 erschienen.