Trotz aller offenen Fragen sind wir heute in der Lage, Genome zu interpretieren und so wichtige Beiträge zur Diagnostik und individuellen Therapie insbesondere im Bereich seltenen Erkrankungen und bei Krebs zu leisten.
Prof. Dr. Stefan Mundlos
Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Humangenetik an der Charité – Universitätsmedizin Berlin
Foto: David Ausserhofer
Die neue genomische Diagnostik verspricht einen bis daher ungeahnt tiefen Einblick in die Zusammensetzung unseres Genoms, dessen individuelle Unterschiede und den Einfluss genomischer Veränderungen auf Gesundheit und Krankheit. Der enorme Wissenszuwachs über die letzten Jahre zusammen mit der geradezu atemberaubenden Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung hat zu einem Translationsschub der Genomik in die Klink geführt, dessen mittel- und langfristige Auswirkungen die moderne Medizin verändern werden. Um sich die Bedeutung und Geschwindigkeit dieser Entwicklung vor Augen zu führen, hilft ein Blick zurück.
Die Sequenzierung der Abfolge der ca. 3,2 Milliarden Basenpaare des menschlichen Genoms war eine Herkulesaufgabe gewesen, an der viele Länder und eine Vielzahl an Laboren beteiligt war.
Es ist schon ein paar Jahre her: Im Jahr 2000 verkündete ein stolzer US-Präsident Clinton die erste Rohfassung der Sequenz des menschlichen Genoms. Clinton sagte: „Mit diesem tiefgreifenden neuen Wissen steht die Menschheit an der Schwelle zu einer immensen, neuen Heilkraft.“ Die Sequenzierung der Abfolge der ca. 3,2 Milliarden Basenpaare des menschlichen Genoms war eine Herkulesaufgabe gewesen, an der viele Länder und eine Vielzahl an Laboren beteiligt war. Dies Bedeutung dieser Pioniertat für die Biologie und Medizin wurde deshalb auch mit der Mondlandung verglichen. Trotz aller Euphorie am Anfang, die eigentliche medizinisch verwertbare Information war gering. Man konnte die Sequenz lesen, aber die Sprache des Genoms war und ist zu großen Teilen immer noch, schwierig zu verstehen. So können wir zwar die Sequenz der ca. 20.000 Gene lesen und auch z.T. in Funktion übersetzen, wie diese Gene aber in unseren Zellen reguliert werden, ist zum großen Teil noch unbekannt. Zudem hat es weiterer Jahrzehnte bedurft das Genom in allen Bereichen vollständig zu sequenzieren und selbst jetzt ist dieser Prozess, insbesondere was die individuellen Unterschiede betrifft, noch nicht abgeschlossen. Trotz aller offenen Fragen sind wir heute in der Lage, Genome zu interpretieren und so wichtige Beiträge zur Diagnostik und individuellen Therapie insbesondere im Bereich seltenen Erkrankungen und bei Krebs zu leisten.
Der Fortschritt in der Sequenziertechnologie und die damit verbundene Kostensenkung hat diese Entwicklung erst ermöglicht und bietet jetzt die Voraussetzung, die Analyse auch ganzer Genome in die klinische Praxis einzuführen. Während die technische Entwicklung voranschreitet werden immer mehr Daten produziert, deren Analyse und Interpretation Biologen, Bioinformatiker und Kliniker vor neue Herausforderungen stellt. Für eine vollständige Analyse müssen bioinformatische Daten mit digital auswertbaren klinischen Daten verknüpft werden und im Zusammenhang medizinisch-klinisch bewertet werden. Hierfür muss nicht nur die notwendige Infrastruktur, sondern es müssen auch die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden. Mit dem Modellvorhaben zur Genomsequenzierung bei seltenen und bei onkologischen Erkrankungen gemäß § 64e SGB V wurden hierfür die erforderlichen Grundlagen gelegt.