Das Konzept des Tabus, das dem polynesischen tapu entstammt und erst von James Cook im Jahr 1777 nach Europa importiert wurde, beinhaltete ursprünglich einen sozialen Meidungskomplex, der insbesondere im Verhalten gegenüber religiösen Gegenständen und Personen anzuwenden war, die einen sehr hohen Status genossen. Erst in Europa erfuhr das Konzept des Tabus eine Öffnung hin zu allen möglichen Praktiken der Meidung und des Verbots, kulturanthropologisch betrachtet also eine Negativierung des Begriffs.
Prof. Dr. Norbert H. Brockmeyer
Präsident der Deutschen STI-Gesellschaft (DSTIG)
Von Tabus belegt sind häufig diejenigen Aspekte, die Sexualität allgemein, den genitalen und analen Bereich, außerdem Suchterkrankungen sowie psychische Erkrankungen umfassen. Allerdings ist in unserem Kulturraum, mehr als der Inhalt des Tabus selbst, vor allen Dingen der Akt des Sprechens über diese Themen tabuisiert – es handelt sich hierbei um gesellschaftlich kultivierte und verfestigte Konventionen, die aus Gründen der (vermeintlichen) Schicklichkeit etabliert und nur schwer aufzubrechen sind.
Glücklicherweise tragen der stetige medizinische Fortschritt und Veränderungen in Kommunikationsstrukturen dazu bei, dass bestehende Tabus zunehmend überwunden werden können: Etwa bei HIV geben die neuesten medizinischen Entwicklungen (die Kassenzulassung der PrEP und die hochwirksamen Medikamente, die die Viruslast unter die Nachweisgrenze mindern) sowie ein in der Gesellschaft größeres Bewusstsein über die Möglichkeiten, eine HIV-Infektion medikamentös zu behandeln, Anlass zur Hoffnung, dass Stigmatisierung zunehmend weiter abgebaut wird. Jedoch ist im Fall anderer sexuell übertragbarer Krankheiten (STI) eher eine wachsende Tendenz einer allgemeinen Sprachlosigkeit zu beobachten. Gleiches gilt für intime Tabus wie etwa Erektionsstörungen und Scheidentrockenheit, aber auch beispielsweise für Leberzirrhose infolge einer Virushepatitis, die oftmals als schambehaftet erlebt wird. In der Zukunft müssen diese Erkrankungen im Rahmen der Sexualanamnese deutlich mehr in den Fokus rücken. Dazu ist eine Stärkung der „sprechenden Medizin“ überfällig, die jedoch nur von wenigen Krankenkassen in ihrer Bedeutung erkannt wird (zum Beispiel von der Knappschaft-Bahn-See).
Einen besonders feinfühligen Umgang erfordern Krankheitsbilder aus dem Spektrum der psychischen Erkrankungen.
Einen besonders feinfühligen Umgang erfordern Krankheitsbilder aus dem Spektrum der psychischen Erkrankungen, die in Deutschland weiterhin sehr stigmatisiert sind. Als tabuisiert gelten in diesem Bereich insbesondere Suchterkrankungen, worunter auch Essstörungen wie Magersucht (Anorexia nervosa) fallen. Besonders tragisch an der Tabuisierung der Depressionen ist der Umstand, dass dieses Leiden zu den Volkskrankheiten zählt und gleichzeitig medikamentös und psychotherapeutisch sowie durch körperliches Ausdauertraining behandelt werden kann, was den Betroffenen zu mehr Lebensqualität verhilft – sofern sie das Schweigen brechen können und Hilfe in Anspruch nehmen.
Tabus als tradierte, gesellschaftlich begründete Ausgrenzung aller Gegebenheiten zu sehen, die als gesellschaftlich schädigend angesehen werden, ist essenziell, um die daraus sich entwickelnden Kommunikationsprobleme zu begreifen und zu überwinden. Dies stellt den unabdingbaren Schritt in Richtung Entstigmatisierung vieler Gesundheitsthemen dar. Darüber hinaus führen Tabus und Stigmatisierung zu einer Vielzahl von sekundären Erkrankungen. Wenn das Sprechen über diese Themen (wieder) möglich wird, bedeutet das für alle Betroffenen einen verminderten Leidensdruck und kann im besten Falle zwischenmenschliche Beziehungen und Leben retten.
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