Rund 30 Millionen Menschen in Deutschland gelten als Allergiker – das ist im Schnitt rund jeder Dritte. Aktuelle Studien gehen davon aus, dass ca. 0,45 Prozent der Gesamtbevölkerung von anaphylaktischen Reaktionen betroffen sind, von denen etwa zehn Prozent in Schule und Kindergarten stattfinden.1 Wie kann geholfen werden und wann dürfen Außenstehende aus rechtlicher Sicht helfen?
Markus Ambrosius
Sträter Rechtsanwälte PartmbB, Bonn
Ein Schultag wie jeder andere: In der Pause wird getobt und gespielt und manchmal auch das mitgebrachte Essen von zu Hause geteilt. Für viele Kinder ganz normal, für andere kann Essenteilen lebensbedrohlich sein. Mitunter reichen Spuren eines Allergens, um schwere allergische Reaktionen auszulösen, bis hin zum anaphylaktischen Schock. Sieht man dem Pausenbrot an, ob ein Sesamkorn darin ist? Und was, außer Kakao und Zucker, ist eigentlich in der Schokocreme?
Kinder, bei denen bereits eine Allergie mit einer Neigung zu Anaphylaxie diagnostiziert wurde, haben oft ein Notfallset mit einem Adrenalin-Autoinjektor (AAI) bei sich. Damit kann die Behandlung einer anaphylaktischen Reaktion in der Regel gut und zeitnah bereits vor dem Eintreffen medizinischer Hilfe eingeleitet werden. Betroffene benötigen hier aber meist Hilfe von Außenstehenden, denn selbst wenn man die Adrenalingabe mit dem AAI geübt hat, ist ein Notfall ungewohnt und auch beängstigend. Dem Bedürfnis nach Unterstützung steht jedoch vielfach die Furcht von Lehrern, Erziehern oder Passanten gegenüber, rechtlich für die Medikamentengabe belangt zu werden.
Die rechtliche Lage
Angst vor juristischen Konsequenzen ist meist unbegründet. Es gibt eine Reihe gesetzlicher Regelungen, die Ersthelfer rechtlich absichern, sodass sehr wohl die Möglichkeit besteht, Notfallmedikamente zu verabreichen. Im Falle eines Schadens träte die gesetzliche Unfallversicherung ein. „Darüber hinaus können Lehrerinnen und Lehrer sowie Betreuerinnen und Betreuer sogar verpflichtet sein, Erste Hilfe zu leisten“, so Rechtsanwalt Markus Ambrosius, Partner bei Sträter Rechtsanwälte.
Das gilt auch für den Einsatz von AAI. Der Umstand, dass ein Kind einen AAI bei sich trägt, lässt den Rückschluss zu, dass bereits ein Anaphylaxierisiko festgestellt wurde. Der AAI wurde dann als Notfallmedikament verordnet, damit sich kostbare Zeit, zum Beispiel bis zum Eintreffen eines Notarztes, überbrücken lässt. Beherztes Eingreifen, mit der Anwendung des AAI, kann dann lebensrettend sein. Allerdings, so Ambrosius, sollten Ersthelfer sich vorab mit dessen Funktionsweise und auch mit dem Notfallplan vertraut machen, um eine schwere Reaktion erkennen zu können.
Was löst Anaphylaxien aus?
Die häufigsten Auslöser von Anaphylaxien in Europa sind Insektengifte, Nahrungsmittel und auch Medikamente. Die jeweilige Häufigkeit ist altersbedingt. So überwiegen Wespen- und Bienengift bei Erwachsenen, Nüsse bei Schul- und tierisches Eiweiß aus Milch und Hühnereiern bei Kleinkindern.
Studien kommen zu dem Ergebnis, dass etwa acht bis zehn von 100.000 Menschen jedes Jahr eine lebensbedrohliche Anaphylaxie erleiden.4 Das bedeutet für eine Stadt wie Berlin mehr als 300 Fälle pro Jahr. Und die Verbreitung solcher Unverträglichkeitsreaktionen nimmt zu.
Adrenalin-Autoinjektor (AAI) in öffentlichen Einrichtungen?
Besonders tückisch daran ist, dass nicht alle Betroffenen wissen, dass sie eine Neigung zur Anaphylaxie haben. Nur zu oft wird dies erst beim Auftreten einer akuten Reaktion geklärt. Auch wird, selbst bei vorliegender Indikation für die Verordnung eines AAIs, nicht immer ein AAI verschrieben. Die Hürden sind hoch. Wie kann man also den Kindern – und auch Erwachsenen – helfen, die noch keine Notfallmedikation bei sich haben?
Die Behandlungsmöglichkeit ist klar und denkbar simpel. Adrenalin kann mittels AAI rasch intramuskulär appliziert werden. Es ist möglich, einen anaphylaktischen Schock durch zeitnahe Gabe von Adrenalin mittels eines Adrenalin-Autoinjektors abzuwenden. Läge es da nicht nahe, AAIs in Schulen, Kindergärten, Restaurants und öffentlichen Einrichtungen zu hinterlegen? Auch am Arbeitsplatz oder in Betriebskantinen könnte dies sehr sinnvoll sein, ähnlich wie es für Defibrillatoren bereits seit Langem gang und gäbe ist.
Deutschland im europäischen Vergleich
Was hierzulande noch nicht ist, kann werden. Tragische Ereignisse mit Todesfällen von jungen Menschen haben in anderen europäischen Staaten bereits weitergehende Schritte zur Prävention ausgelöst. So gibt es etwa in Irland schon seit 2015 die „Emergency Medicines Legislation“. Sie ermöglicht Einrichtungen wie Schulen oder Unternehmen, bestimmte verschreibungspflichtige Notfallmedikamente zu beschaffen, bereitzuhalten und in Notfällen zu verabreichen. Voraussetzungen hierfür sind eine entsprechende Meldung gegenüber der Arzneimittelbehörde und die Benennung einer geschulten, verantwortlichen Person. Zahlreiche bekannte Unternehmen haben bereits von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, so zum Beispiel die Dublin City University oder Facebook Ireland Ltd.7
Ist also die Lösung schon in Sicht? Letztlich wird es darauf ankommen, viele Beteiligte zum Helfen zu motivieren. Das sind zum Beispiel Lehrer und Erzieher in Schulen und Kindergärten, die sich informieren sollten, welche Vorerkrankungen und einhergehende Risiken es bei ihren betreuten Kindern gibt. Gut wäre, sie entsprechend in Erster Hilfe zu schulen.
Was ist eine Anaphylaxie?
Eine Anaphylaxie ist die Maximalvariante der allergischen Sofortreaktion, die als akute systemische Reaktion den gesamten Organismus erfassen kann und je nach Schweregrad mit unterschiedlichen Symptomen einhergeht. Die Erscheinungen setzen rasch ein und können sich bis zum (allergischen) Schock entwickeln. Damit ist eine Anaphylaxie eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung.2,3
Quellen:
[1] European Centre for Allergy Research Foundation (Stiftung ECARF). Anaphylaxie: https://www.ecarf.org/info-portal/erkrankungen/anaphylaxie [letzter Zugriff: 15.03.2022].
[2] Ring J, Brockow K. Anaphylaxie und anaphylaktischer Schock. Notfall Rettungsmedizin. 2006;9:529-534.
[3] Ring J, Brockow K. Anaphylaxie-Leitlinie: Update 2021. Allergo Journal. 2021;30:3.
[4] Ring J, Klimek L, Worm M. Adrenalin in der Akutbehandlung der Anaphylaxie. Deutsches Ärzteblatt International. 2018;115: 528-34.
[5] Worm M, Francuzik W, Renaudin JM, Bilò MB, Cardona V, Scherer Hofmeier K et al. Factors increasing the risk for a severe reaction in anaphylaxis: An analysis of data from The European Anaphylaxis Registry. Allergy 2018;73:1322–30.
[6] Lee S, Hess PE, Lohse C et al. Trends, characteristics, and incidence of anaphylaxis in 2001-2010: A population-based study. Journal of Allergy and Clinical Immunology. 2017;139(1):182-88.
[7] Health Products Regulatory Authority (HPRA). About the Emergency Medicines Legislation: https://www.hpra.ie/homepage/medicines/emergency-medicines/about-emergency-medicines [letzter Zugriff: 15.03.2022].