Andy Holzer ist Profibergsteiger und blind. Ein philosophisches und bildhaftes Interview mit dem weit gereisten Osttiroler über Gipfel als letzte Pinselstriche, emotionale Grenzerfahrungen und augenöffnende Botschaften.
Blind bergzusteigen und zu klettern – das ist für viele vermutlich nicht vorstellbar. Wie erklären Sie das sehenden Menschen?
Die Blindheit war für mich nie eine Barriere. Ich habe kein Augenlicht, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich nicht Ziele erreichen kann, die für mich erstrebenswert erscheinen. Das habe ich schon als Kind verstanden und gespürt. Ich habe mich immer daran orientiert, wohin mich die Sehnsucht treibt – nicht nur was das Klettern betrifft, sondern ganz generell im Leben. Das vergessen die meisten Menschen leider, weil sie sich zuerst an ihren Voraussetzungen orientieren.
Was ist das Intensivste, was Sie jemals am Berg erlebt haben?
Da tue ich mir ganz schwer, weil ich schon lange nicht mehr auf Ranglisten aufspringe. Es gibt keine besseren oder schlechteren Erfahrungen, sondern einfach unterschiedliche. Aber natürlich habe ich ein paar Eckpfeiler. Etwa, als ich nach zwei Versuchen tatsächlich am Dach der Welt, dem Mount Everest, angekommen bin und mit im Gepäck hatte, dass mein Vater in diesen Tagen zu Hause verstorben war. Das sind emotionale Grenzen. Der Mount Everest hat mich das Leben und nicht das Überleben gelehrt. Wir streben alle die Perfektion an, aber das ist eine komplett sinnlose Investition.
Sie haben einmal gesagt: Der Mount Everest liege nicht in Asien, sondern in jedem von uns. Wie bezwingen Sie Ihren inneren Everest?
Zuerst gilt es, den eigenen inneren Everest zu entdecken. Viele von uns sehen nur den Everest des Nachbarn, doch jeder hat für sich selbst eine ursprüngliche Sehnsucht. Wenn man dieses Ziel gefunden hat, dann sind 80 Prozent der Maut schon bezahlt. Aber die Unorientiertheit, die Ziellosigkeit und das Treiben in den Möglichkeiten des Universums lassen uns oft im Dunkeln tappen. Wenn man den Everest gefunden hat, sollte man ihn auch angehen. Viele Menschen werden nie hinaufsteigen, weil das Risiko zu hoch sein könnte. Aber zu scheitern ist nicht schlimm, es überhaupt nicht zu probieren allerdings schon. Der Everest ist die Grundsehnsucht des Menschen, wofür er überhaupt auf diese Welt gekommen ist. Mein Everest ist es, zu versuchen, das Tempo, in dem die Menschen getrieben sind, etwas zu reduzieren, zu erden und auf simple Werte zurückzubringen.
Wie nehmen Sie die Situation wahr, wenn Sie einen Gipfel erreichen?
Ich steige auf die Berge nicht nur der Berge willen, sondern weil ich das erleben will, was meine Freunde erleben. Ich war schon früh motiviert, den ganzen Horizont zu überklettern, damit ich weiß, wie er aussieht. Ich habe die Berge abgetastet und sie von verschiedenen Seiten bestiegen, um sie mir dreidimensional vorzustellen. Einen Gipfel zu erreichen ist der letzte Pinselstrich meiner Motivation.
Beim Klettern kommt es ja auch auf die Koordination von Augen und Händen an. Wie gleichen Sie den Augen-Part aus?
Meine Eltern haben mich nie als blinden Menschen erzogen. Ich nehme zwar über meine Augen nichts wahr, aber ich habe das Leben von sehenden Menschen gelernt – auf Augenhöhe sozusagen. Mein Leben ist nicht stockdunkel, sondern voller Bilder, Muster, Strukturen, Leitfäden und Farben. Denn ich habe als Kind gelernt, den Sehkortex zu aktivieren und empfinde deswegen wohl ähnlich wie Sehende. Aber spannend ist ja, dass normal sehende Kletterweltmeister zum Teil bewusst ohne Augenlicht trainieren, weil man damit sein Körpergespür trainiert und man seine Hände dorthin bewegt, wo es für das Balancesystem des Körpers am besten ist. Sehende greifen nach dem, was sie sehen – auch wenn es physikalisch nicht funktioniert. Denn die Augen verführen und das ist nicht nur beim Klettern so, sondern auch im echten Leben.