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    Ein ADHS-Gehirn wird nie so funktionieren wie ein neurotypisches Gehirn

    Foto: Annika Fußwinkel

    Angelina Boerger ist Journalisten, Autorin, Influencerin und hat diagnostiziertes ADHS. Im Interview sprachen wir mit der Powerfrau über ihre persönlichen Erfahrungen und ihren unermüdlichen Einsatz für Aufklärung.

    Angelina, bei dir wurde AD(H)S erst als Erwachsene mit 29 Jahren diagnostiziert. Kannst du das Gefühl beschreiben das du hattest, als die Diagnose (endlich) fest stand?

    Ich erinnere mich, ich saß an der Bushaltestelle, in meiner Hand die Diagnosezettel und ich habe erstmal geheult. Aber nicht, weil ich dachte, das ist das Ende, sondern die Chance für einen Neuanfang. Das war mein Wendepunkt. Ein heilender Moment des Verstehens: Okay, da gibt es eine neurobiologische Ursache dafür, dass mein Gehirn anders tickt, und: Ich bin damit nicht allein. Wir sind viele: Offiziell rund 2,5 Millionen Erwachsene allein in Deutschland, bei einer vermutlich weit höheren Dunkelziffer, die mitunter einen hohen Leidensdruck verspürt. Und mir war sofort klar: Daran muss sich etwas ändern!

    Angelina Boerger

    Journalistin, Autorin, Influencerin und hat diagnostiziertes ADHS

    Angelinas Instagram Kanal @kirmesimkopf

    Das Gefühl, dass dein Gehirn irgendwie anders tickt, begleitet dich aber schon sehr lange, oder? Wie hast du deine Schul- und Studienzeit bewältigt, das muss doch ein enormer Leidensdruck gewesen sein?

    Foto: © Annika Fußwinkel

    Das Tückische bei ADHS ist: nach außen wirkt es gerade bei weiblich sozialisierten Personen häufig, “als sei doch alles im Griff”, und das versucht man sich dann auch so lange wie möglich selbst einzureden. So war es auch bei mir. Denn schon im Kindesalter entwickelt man oft Strategien, um alles irgendwie zu wuppen, Symptome zu verstecken und wenn möglich, nicht aufzufallen. Dazu umgibt Kinder ja häufig auch ein Sicherheitssystem, das vieles abfedert, beispielsweise die Eltern, dann die Routinen im Alltag und in der Schule. Bis dieser Rahmen dann auf natürliche Weise immer kleiner wird und man spätestens als junge Erwachsene mehr und mehr auf sich selbst gestellt ist. So war es auch bei mir. Da wurde das Gefühl von “ich gebe doch schon alles, aber bleibe trotzdem unter den Erwartungen“ immer größer.

    Und dann diese permanente Frage in meinem Kopf: Wie schaffen das denn andere? Klar konnte ich, wenn nötig, abliefern, aber das kostete mich im Hintergrund oft Unmengen an Energie. Und der Preis dafür ist oft sehr hoch: Bei vielen Menschen mit ADHS entstehen im Laufe der Zeit psychosomatische Probleme, sie leiden an Burn-Out, Depressionen oder Angststörungen, es entwickeln sich Zwänge, Essstörungen, Suchtstörungen und vieles mehr. Und das ist dann eben keine “quirky” Eigenschaft mehr, sondern ein ernsthaftes Problem.

    Was hat sich seit deiner Diagnose verändert?

    Einfach alles. Ich werde jeden Tag mehr zu dem Menschen, der ich sein will, lerne mich neu kennen, bewerte Dinge neu und gebe mir ganz viel Zeit zu verstehen. Ich habe mir professionelle Hilfe dabei gesucht, ich komme in Austausch mit ganz wunderbaren Menschen, denen es ähnlich geht wie mir, ich habe einen Instagram- Account, auf dem auf dem ich regelmäßig aufkläre, habe ein Buch geschrieben, gehe auf Lesung, halte Vorträge. Ich habe mir eine Welt geschaffen, in der mein Hirn die meiste Zeit das bekommt, was es will: Dopamin, Abwechslung, Nervenkitzel, Challenges, Aufmerksamkeit und Mitgefühl. Nur das mit dem Ausgleich und der Ruhe, das habe ich immer noch nicht so gut drauf. Aber ich übe noch.

    In letzter Zeit gehen immer mehr Menschen, auch bekannte Persönlichkeiten (u. a. Eckart von Hirschhausen, Felix Lobrecht), mit ihrer Diagnose an die Öffentlichkeit – könnte man überspitzt gesagt also von einer Modediagnose sprechen?

    Die nur allzu oft laut werdende Vermutung “ADHS habe stark zugenommen und sei eben ein Zeichen unserer Zeit”, ist wissenschaftlich bisher nicht belegt. Auch nach übereinstimmender Meinung vieler Mediziner und Psychologen, sind heutzutage nicht signifikant mehr Kinder und Erwachsene betroffen als früher. ADHS wird vielmehr eine zunehmend größere Beachtung geschenkt. Einerseits ist das sicherlich auf neuere Diagnosemethoden zurückzuführen, die ein ADHS heute deutlicher von einer anderen Störung abgrenzen. Auf der anderen Seite hat es eben auch Veränderungen in der Familienstruktur und Erziehung gegeben.

    Ich wünschte ich könnte fünf Tipps runterbeten, die für jeden und jede umsetzbar sind und ein gesünderes und besseres Leben versprechen. Das kann ich aber leider nicht.

    Angelina Boerger

    In den auf ein bis zwei Kinder geschrumpften Familien kann und wird jedem einzelnen Kind ein größerer Stellenwert eingeräumt, als dies noch in den kinderreichen früheren Großfamilien der Fall war. Sprich, der individuellen Gesundheit eines Menschen wird mehr Aufmerksamkeit geschenkt, wir nehmen einander ernster und schaffen mehr Hilfsangebote. Das ist eine positive Entwicklung. Deshalb sind solche Begriffe wie „Modediagnose“, „Modekrankheit“, „Volkskrankheit“, „Zivilisationskrankheit“ etc. absolut kontraproduktiv, wenn wir wollen, dass es unseren Mitmenschen besser geht, sie sich anderen anvertrauen, BEVOR es ernsthafte Folgen haben könnte und sie die Hilfe bekommen, die sie brauchen.

    Du gehst als Frau ganz bewusst an die Öffentlichkeit und willst aufklären. Anfang 2023 erschien dein Buch „Kirmes im Kopf“. Warum ist Aufklärung für dich so eine Herzensangelegenheit?

    Weil es – trotz der aktuellen Berichterstattung – immer noch viel zu wenig tiefgreifende und flächendeckende Aufklärung gibt. Es gibt so viele Menschen, die das Thema betrifft, aber das Stigma ist immer noch so viel größer als unser Verständnis dafür. Das hat mich erst sehr betroffen, dann sehr wütend und mittlerweile sogar ein bisschen versöhnlich gemacht. Denn ich weiß, es fehlt einfach nur an ausreichendem Wissen, und das nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in Fachkreisen. Hier halten sich die Vorurteile und Stigmata besonders hartnäckig und werden leider auch stetig verbreitet, was zu noch mehr Leid führen kann. Aber ich bin überzeugt davon, dass der Stein bereits ins Rollen gekommen ist und ich werde nicht müde, mich immer und immer wieder hinzustellen und meine Arbeit zu machen. Denn unterm Strich kann jeder Post, jedes Interview, jeder Podcast, jedes Gespräch dafür sorgen, dass es Menschen danach besser geht oder sogar unterm Strich Leben gerettet werden. Und dafür lohnt es sich doch immer zu kämpfen, oder?

    Welche Strategien helfen dir im Alltag, das Chaos im Kopf zu bändigen?

    Ich wünschte, ich könnte hier jetzt fünf Tipps runterbeten, die für jeden und jede umsetzbar sind und ein gesünderes und besseres Leben versprechen. Das kann ich aber leider nicht, denn ADHS ist eine ganz individuelle Kiste. Ich übe mich jeden Tag darin, neue Routinen zu entwickeln, die mir das Leben leichter machen. Manche funktionieren gut, andere schlechter und manche vergesse ich auch allzu gerne wieder. Das Gemeine bei ADHS ist: Gewohnheiten zu erlernen, besser zurecht zu kommen, ist das A&O, nur erfordern sie Geduld, Konsistenz, Konzentration, Wiederholung und Routine – und damit habe ich ADHS-bedingt leider oft ein Problem. Kurz gesagt: Routine langweilt mich, obwohl sie mir hilft. Aber wenn ich es herunterbrechen müssten, wären es die Klassiker: Eine ausgewogene Ernährung, etwas Bewegung an der frische Luft, genügend Schlaf, soziale Kontakte und je nach Leidensdruck natürlich so etwas wie Psychotherapie und medikamentöse Therapie.

    AD(H)S als Persönlichkeitsmerkmal – was sagst du dazu?

    Ich tue mich mit der Kategorisierung von ADHS tatsächlich immer noch sehr schwer. Es gibt so viele davon: Krankheit, Störung, Behinderung, Gabe, Persönichkeitsmerkmal – für mich ist es alles und nichts davon, denn es kommt immer darauf an, durch welche Brille man darauf schaut und ob diese eher defizitär oder auch als etwas, das eine Chance birgt, betrachtet wird. Man darf einfach bei all diesen Debatten nicht vergessen, dass es um einen gehirnbasierten Unterschied geht. Das heißt, dass ein ADHS-Gehirn nie so funktionieren wird wie ein neurotypisches Gehirn.

    Wenn wir aufhören uns zu vergleichen und uns eingestehen, dass das so in Ordnung ist und nichts mit unserem Wert zu tun hat, dann ist das ein wichtiger Schritt in Richtung Selbstakzeptanz. Das wäre meine wichtigste Message in wenigen Sätzen zusammengefasst.

    Kirmes im Kopf – Wie ich als Erwachsene herausfand, dass ich AD(H)S habe

    Als Paperback oder als Download unter: ISBN 978-3-462-00461-8

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