Ich kann eigentlich nichts mehr allein machen. Ich kann nicht allein auf die Straße gehen, weil es mir so schwindelig wird, dass ich jemanden brauche, der mich stützt. Ich bin mit einem Rollator unterwegs, aber selbst der Weg zum Supermarkt ist für mich allein nicht machbar.
Inge B.
Unter Myeloproliferativen Neoplasien (MPN) versteht man eine Gruppe von seltenen Erkrankungen des Knochenmarkes, pro Jahr erkranken in Deutschland ein bis zwei Menschen pro 100.000 Einwohner. Charakteristisch für diese Krankheitsbilder ist eine gesteigerte Produktion von Blutzellen, was sich in einer Vielzahl von Symptomen äußern kann, die das Leben Betroffener stark beeinträchtigen können. Die Vielschichtigkeit der Symptome macht es Ärzten nicht leicht, den MPN auf die Spur zu kommen, da auch die veränderten Blutwerte zunächst andere, häufiger vorkommende Erkrankungen vermuten lassen. Eine möglichst frühe Diagnose ist aber wichtig, um die Symptome langfristig einzudämmen und Folgeschäden zu vermeiden.
Inge B. ist 77 Jahre alt, hat Polycythaemia Vera und erzählt uns im Interview von ihrem langen Weg zur Diagnose und ihrem Leben mit dieser seltenen Form von Blutkrebs, die zu den Myeloproliferativen Neoplasien (MPN) zählt.
Frau B., Sie sind betroffen von der seltenen Erkrankung Polycythaemia Vera. Wann haben Sie bemerkt, dass etwas gesundheitlich nicht stimmt, welche Beschwerden traten auf?
Ich habe schon als Kind gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Ich hatte nie große Energiereserven, konnte mich nicht lange aufrecht halten und war ständig müde. Seit ich denken kann, leide ich an Schwindel, und Kopfschmerzen sind mein ständiger Begleiter. In der Schule hatte ich große Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. Zudem hatte ich schon immer eine schlechte Wundheilung. Bin ich als Kind hingefallen, hat es Monate gedauert, bis z. B. ein offenes Knie verheilt war. Meine Mutter war zwei, dreimal mit mir beim Arzt, es wurde aber nie etwas festgestellt. Ein Kinderarzt meinte: „Bis ihre Tochter verheiratet ist, hat sich das gegeben!“ Leider war das aber nicht so, und ich musste mich weiter durchs Leben kämpfen, ohne dass eine Ursache gefunden werden konnte und mir geholfen wurde.
Was waren vor der Diagnose die größten Herausforderungen für Sie und wie hat sich die Erkrankung auf Ihr Leben ausgewirkt?
Ich wurde aufgrund meiner Beschwerden als faul und träge abgestempelt, das war sehr schwer für mich. Und irgendwann glaubt man das auch selbst. Ich war dann der Meinung, dass ich mich anscheinend einfach nur zu blöd anstelle. Das macht natürlich was mit der Seele.
Wann wurde die Diagnose gestellt und was ging in Ihnen vor, nachdem die Erkrankung festgestellt wurde?
2014 habe ich starke, stechende Schmerzen im Rücken bekommen und bin von einem Arzt zum nächsten gelaufen. Irgendwann hat dann einer der Ärzte ein Blutbild gemacht und sagte, dass ihm die Werte Sorgen machen. Er überwies mich in die Onkologie, wo eine Beckenkammbiopsie durchgeführt wurde. Danach stand das Ergebnis fest: Ich habe Polycythaemia Vera. Ich hatte nie zuvor von der Krankheit gehört, aber leider bekam ich auch von dem Onkologen keine weiteren Informationen. Er sagte nur, das sei eine erblich bedingte Erkrankung, und da könne man auch nicht viel machen. Er gab mir noch fünf Jahre Lebenszeit. Das war natürlich ein Schock. Ich habe mich dann selbst im Internet über die PV informiert.
Welche Rolle spielt Ihre Erkrankung in Ihrem Alltag und mit welchen Herausforderungen haben Sie zu tun?
Ich kann eigentlich nichts mehr allein machen. Ich kann nicht allein auf die Straße gehen, weil es mir so schwindelig wird, dass ich jemanden brauche, der mich stützt. Ich bin mit einem Rollator unterwegs, aber selbst der Weg zum Supermarkt ist für mich allein nicht machbar. Die Kopfschmerzen begleiten mich weiterhin. Aber das Schlimmste sind die Hautprobleme. Ich habe immer wieder offene Stellen, seit sieben Jahren auch an den Füßen, das sind einfach grauenhafte Schmerzen.
Ich kann deswegen keine geschlossenen Schuhe tragen und komme kaum aus dem Haus. Auch Kleidung, die eng anliegt, wie z. B. Strümpfe oder Unterwäsche mit Gummibund, kann ich nicht tragen, weil meine Haut so empfindlich ist. Mittlerweile habe ich deswegen sogar den Pflegegrad 3.
Das alles hat auch dazu geführt, dass ich mit Depressionen zu kämpfen habe. Manchmal geht es mir so schlecht, dass ich einfach nicht mehr kann.
Aus Ihrer Sicht als Patientin: Was ist seitens der Medizin, aber auch seitens des persönlichen Umfeldes wichtig, damit Betroffene ihren Alltag bestmöglich meistern können?
Wichtig wäre mir, dass mir zugehört wird. Wenn ich meinem Arzt schildere, dass es mir wieder sehr viel schlechter geht, wünsche ich mir, dass ich Verbesserungsvorschläge bekomme.
Das mpn-Netzwerk e. V.
ist eine Selbsthilfeinitiative für Menschen mit Myeloproliferativen Neoplasien und ihren Angehörigen.
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.mpn-netzwerk.de
Mir machen die offenen Hautstellen wirklich zu schaffen und beeinträchtigen mich sehr. Aber oftmals scheitert es schon daran, dass Ärzte selbst nicht genug zu solchen seltenen Krankheiten wissen. Von meinem Umfeld würde ich mir mehr Verständnis wünschen. Ich kann eben nicht so wie andere. Zwei Stunden Besuch sind für mich wie ein Marathon, ich bin hinterher vollkommen fertig. Das verstehen die wenigsten.
Was möchten Sie anderen Betroffenen noch mit auf den Weg geben?
Ich habe selbst viele Ärzte getroffen, die mich nicht ernst genommen haben. Ich denke, man sollte aber trotzdem dran bleiben und sich einen Spezialisten suchen, der sich mit dem Krankheitsbild auskennt.
Man sollte sich selbst intensiv zu seiner Krankheit informieren und Menschen finden, die eine ähnliche Geschichte haben. Ich denke, mir hätte das nach meiner Diagnose sehr geholfen. Deswegen versuche ich jetzt mit 77 Jahren erstmals, mich mit anderen Betroffenen zu vernetzen. Ich hoffe sehr, dass ich so jemanden finde, der mir mit seinen Erfahrungen weiterhelfen kann!
Symptome erkennen – und richtig in Zusammenhang bringen
Die verschiedenen Symptome der MPN sind sehr vielschichtig und werden mit Fortschreiten der Erkrankung stärker. Folgende Symptome machen das Beispiel der Polycythaemia Vera deutlich:
Chronische Müdigkeit, Schmerzen im linken Oberbauch, verstärktes nächtliches Schwitzen, Juckreiz besonders nach Kontakt mit Wasser, Appetitlosigkeit, Seh- und Konzentrationsstörungen, Ohrensausen, trockene Haut
Oft werden diese Symptome eher auf das Alter oder bei Frauen auf die Wechseljahre zurückgeführt und nicht in Kombination betrachtet. Die Folge: der Arztbesuch bleibt aus, die PV bleibt unentdeckt und somit auch unbehandelt, schwere Komplikationen können auftreten.
Wichtig ist:
zunehmende Beschwerden ernst nehmen! Auch wenn die Diagnose bereits gestellt wurde, sollten Betroffene die Symptome im Blick behalten und regelmäßige Kontrolluntersuchungen durchführen lassen.