Mit den zielgerichteten Therapien können Forscher und Ärzte die Medizin neu denken – und einen Wandel in der Krebsbehandlung vorantreiben. Diese Wirkstoffe richten sich dabei gegen ausgewählte Strukturen der Krebszelle und hemmen präzise ihr Wachstum. Die Behandlung ist außergewöhnlich wirksam und hat weniger Nebenwirkungen als die herkömmlichen Chemotherapien. Relevant sind dafür vor allem bestimmte Biomarker auf oder in der Tumorzelle, nach denen die Wissenschaftler nun verstärkt suchen.
Priv.-Doz. Dr. med. Jolanta Dengler
Fachärztin in der Onkologischen Schwerpunkt- praxis Heilbronn
Prof. Dr. Hans Tesch
Direktor am Onkologischen Zentrum Frankfurt Nord-Ost
Normalerweise herrscht im Körper eine strenge Regelung – zum Beispiel wann und wie oft sich Zellen teilen oder wann es zum Zelluntergang, der sogenannten Apoptose, kommt. Den Auftrag dafür geben verschiedene chemische Botenstoffe. Wie ein Schlüssel zu einem Schloss passen sie zu einem Rezeptor auf oder in der jeweiligen Zelle. Durch die Verbindung von Botenstoff und Rezeptor wird im Zellinneren eine Signalkaskade ausgelöst, die verschiedene Vorgänge in der Zelle, zum Beispiel das Zellwachstum, steuert.
Gestörtes Zellwachstum
Problematisch wird es, wenn Zellen die üblichen Regelmechanismen der Zellteilung oder des Zelluntergangs „missachten“. Tumorerkrankungen entstehen, wenn beispielsweise ein Fehler am Wachstumsrezeptor oder in der dahintergeschalteten Signalkaskade auftritt. Die so veränderten Zellen vermehren sich unkontrolliert, wachsen in umliegendes gesundes Gewebe ein und zerstören oder verdrängen es. Im schlimmsten Fall vermehren sie sich in anderen Organen und bilden Metastasen.
Selbst Laien kennen inzwischen die drei klassischen Säulen der Therapie, um gegen Krebserkrankungen vorzugehen: die Operation, die Strahlentherapie und die systemische Chemotherapie. So wirksam diese drei Therapien häufig sind, so sehr haben sie ihre Einschränkungen: Die Operation und die Strahlentherapie wirken nur lokal am Tumor selbst. Mit der Chemotherapie kann man sowohl den Tumor als auch die gestreuten Krebszellen bekämpfen, allerdings entstehen dabei häufig Nebenwirkungen an gesunden Zellen wie zum Beispiel an den Haaren, Schleimhäuten oder an Blutzellen.
Zielgerichtete Therapie
Weil Krebsforscher und Ärzte immer besser verstehen, wie sich Krebszellen von gesunden Zellen unterscheiden, konzentrieren sie sich heutzutage immer stärker auf spezifische Behandlungen: Neben der Immuntherapie, bei der man die körpereigene Immunantwort gegen Tumorzellen verstärkt oder die Hemmung dieser Immunantwort abschaltet, gibt es seit circa 20 Jahren die sogenannten zielgerichteten Therapien, im Englischen „targeted therapies“. Trotz großer Erfolge sind sie in der Öffentlichkeit bis heute relativ wenig bekannt.
Die zielgerichteten Medikamente sind verfügbar als Tabletten oder Infusionen und greifen gezielt in die Tumorwachstumsabläufe ein, und das mit unterschiedlichen Prinzipien. Die Wirkstoffe blockieren zum Beispiel den Rezeptor oder weitere Bestandteile der Signalkaskade zur Steuerung des Zellwachstums. Sie unterdrücken die Gefäßversorgung des Tumors und damit die Zufuhr von Sauerstoff und Nährstoffen zu den Krebszellen. Sie blockieren in den Tumorzellen den Mechanismus der Ausscheidung von nicht mehr benötigten Eiweißmolekülen, sodass die Krebszelle „an ihrem eigenen Müll erstickt“. Sie stören die Reparaturfunktion der Zellen oder markieren sie, damit das körpereigene Immunsystem sie als Fremdkörper erkennt und attackiert.
Diagnostische Suche nach Merkmalen
Die zielgerichteten Therapien sind bei verschiedenen Krebserkrankungen wie Brustkrebs, Lungenkrebs, Hautkrebs oder Darmkrebs sowie bei bösartigen Erkrankungen der Blutzellen (Leukämien) und der Lymphknoten (Lymphomen) einsetzbar.
Eine zielgerichtete Therapie ist nur dann wirksam, wenn bestimmte Merkmale vorhanden sind, sie ist in einem solchen Fall in der Regel sehr effektiv.
Gerade die sogenannte Philadelphia-Chromosom-positive chronische myeloische Leukämie (CML) führte noch vor etwas mehr als 20 Jahren trotz damaliger Behandlung nach wenigen Jahren zum Tode, oder die Patienten mussten sich einer häufig sehr komplikationsreichen Knochenmarks- oder Stammzelltransplantation unterziehen.
Inzwischen kann ein Großteil der an CML Erkrankten dank der zielgerichteten Medikamente ein weitgehend normales Leben führen mit einer Lebenserwartung, die sich kaum von der Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung unterscheidet. Allerdings wirken die zielgerichteten Medikamente nur bei Patienten, bei denen die jeweiligen Zielstrukturen auf oder in der Zelle gefunden werden. Bei der CML wirkt die zielgerichtete Therapie nur, wenn das sogenannte Philadelphia- Chromosom in den Tumorzellen vorhanden ist. Bei der Erstdiagnose einer jeweiligen Tumorerkrankung suchen die Ärzte standardmäßig nach Biomarkern, die Zielstrukturen für moderne Therapien darstellen können.
„Eine zielgerichtete Therapie ist nur dann wirksam, wenn bestimmte Merkmale vorhanden sind, sie ist in einem solchen Fall in der Regel sehr effektiv“, sagt Priv.-Doz. Dr. Jolanta Dengler, Fachärztin in der Onkologischen Schwerpunktpraxis Heilbronn. „Wir suchen also gezielt nach bestimmten genetischen Veränderungen oder nach bestimmten Oberflächenmerkmalen der Tumorzellen und können dann entscheiden, ob ein Patient für eine bestimmte zielgerichtete Behandlung infrage kommt. Erst wenn die Ergebnisse der speziellen zytogenetischen, molekulargenetischen oder durchflusszytometrischen Untersuchungen vorliegen, kann der Arzt also eine zielgerichtete Therapie vorschlagen. In vielen Fällen wird die zielgerichtete Therapie mit der klassischen systemischen Chemotherapie oder mit der Hormontherapie kombiniert.
Vernichtete Tumorzellen
Viele Medikamente, die zugelassen sind, sind vor allem in fortgeschrittenen Stadien der Krebserkrankung einsetzbar. Beim Brustkrebs gibt es inzwischen auch Mittel gegen Tumore, die im frühen Stadium wirken. „Ein Ziel der Therapie ist, das Zellwachstum des Tumors so zu hemmen, dass sich der Krebs im fortgeschrittenen Stadium mit Fernmetastasen in eine chronische Erkrankung und damit in einen milderen Verlauf verwandelt“, sagt Prof. Dr. Hans Tesch, Direktor Onkologisches Zentrum Frankfurt Nord-Ost. „Im günstigsten Fall, wie zum Beispiel bei der CML, können Patienten nach ein paar Jahren sogar die Medikamente absetzen. In der sogenannten therapiefreien Remission benötigen sie dann keine Medikamente mehr. Dennoch braucht es hier eine weitere Beobachtung und es ist bisher unklar, wie dauerhaft diese Remissionen ohne Therapie sind. Bei fortgeschrittenem Lungen- und Brustkrebs stellen wir fest, dass dank der zielgerichteten Therapie Patienten deutlich länger überleben als bei bisherigen Behandlungen. Sie ist also längst eine Standardtherapie und aus meiner Sicht ein großer Fortschritt in der Krebsbehandlung.“
Ganzheitliche Behandlung
Trotz ihrer Effektivität hat die zielgerichtete Therapie ihre Nebenwirkungen. „In der Regel treten sie bei ihr etwas weniger als bei der Chemotherapie auf, aber es gibt keine Therapie ohne Nebenwirkungen“, sagt Prof. Dr. Hans Tesch. „Mögliche Folgen sind unter anderem Lungeninfektionen, Hauterscheinungen, Durchfall, Schädigung der Leber sowie Beeinträchtigung der Herzfunktion. Wichtig ist außerdem, dass Patienten ganzheitlich betreut werden. So wie es an Tumorzentren üblich ist, braucht es ein Team an Medizinern, wie beispielsweise Onkologe, Gynäkologe, Radiologe, Pathologe oder Strahlentherapeut. Da Krankheit und Therapie sehr belastend sind, benötigen Patienten häufig eine psychologische Betreuung.“
Ähnlichen Bedarf sieht auch Priv.- Doz. Dr. Jolanta Dengler: „Wir sprechen hier über sehr komplexe Therapien, auch wenn es auf den ersten Blick recht einfach erscheint, eines oder ein paar Medikamente einzunehmen. Fachärzte und medizinisches Fachpersonal benötigen unter Umständen spezielle Ausbildungen, denn sie müssen die Patienten hinsichtlich der Therapietreue und der möglichen Nebenwirkungen engmaschig beobachten. Die Betreuung der Patienten ist mitunter sehr zeitintensiv. Hier braucht es zum Teil neue, moderne Strukturen in der ambulanten und stationären Organisation der Patientenbetreuung.“
Positive Krankheitsverläufe
Die guten Erfahrungen im klinischen Alltag sind zum Teil sehr überzeugend, so berichtet Priv.-Doz. Dr. Jolanta Dengler: „Bei der CML blicken wir Ärzte stolz auf mittlerweile circa 20 Jahre erfolgreiche Behandlung mit den effektiven zielgerichteten Medikamenten zurück. CML-Patienten versterben heute nur noch in seltenen Fällen an ihrer Krebserkrankung. Bei den verwandten myeloproliferativen Erkrankungen des blutbildenden Systems kann durch die zielgerichtete Therapie die Milzgröße günstig beeinflusst werden und die Beschwerden können gemindert werden. Selbst bei fortgeschrittenen soliden Tumoren, zum Beispiel bei Patienten, bei denen der Dickdarmkrebs Metastasen gebildet hat, können durch die Kombination aus einer zielgerichteten Antikörpertherapie mit systemischer Chemotherapie langjährige Krankheitsverläufe mit beeindruckendem Rückgang der Metastasen und sogar sekundärer Operabilität erreicht werden. In der Zukunft müssen wir unsere Bemühungen auf die Aufdeckung weiterer Zielstrukturen für neue zielgerichtete Therapiestrategien richten.“
Ein weiteres künftiges Ziel der zielgerichteten Therapie wird es sein, den Krebs nicht mehr organspezifisch zu bekämpfen. Unabhängig von der jeweiligen Krebsart wollen Ärzte stattdessen mit der zielgerichteten Therapie die genetische Störung, die zur Tumorentstehung geführt hat, präzise angehen.