Die Belastung ist groß, die Grenze des Möglichen irgendwann erreicht:
Die Diagnose Demenz ändert nicht nur das Leben der Erkrankten selbst, auch die Angehörigen stehen plötzlich vor großen Herausforderungen.
Der gemeinnützige Verein Desideria Care aus München bietet betroffenen Familien bundesweit eine Anlaufstelle, um über ihre Sorgen und Nöte zu sprechen und sich mit anderen Angehörigen auszutauschen.
Anja Kälin
Systemische Coachin, Familientherapeutische Beraterin und Mitbegründerin von Desideria Care
Zu Beginn sind es die kleinen Veränderungen, die den Familienangehörigen auffallen. Der Erkrankte reagiert anders als sonst oder verhält sich irritierend. Ein Verhalten, das oft persönlich genommen wird. Es entstehen Unsicherheiten. Später dann kommt langsam der Verdacht auf, es könnte eine Demenz sein. Bis die die Diagnose gestellt ist, kann es noch lange dauern. Kommt es schließlich dazu, ist das für viele noch mal ein großer Schritt. Denn die Diagnose löst neue Ängste aus. „Mit ihr kommt aber auch eine Klarheit rein. Man kann sagen: Okay, es hat weniger mit unserer Beziehung zu tun, sondern eher mit der Symptomatik der Erkrankung. So ist die Trennung zwischen Krankheit und Mensch wieder möglich“ erklärt Anja Kälin. Sie ist Mitgründerin und zweiter Vorstand von Desideria Care und begleitet betroffene Familien als systemischer Coach und Familientherapeutin. Sie ist selbst Betroffene, weiß als Tochter einer an Demenz erkrankten Mutter nur zu gut, wie herausfordernd es ist, einen Menschen mit Demenz zu begleiten.
Um sich als pflegender Angehöriger in dieser schwierigen Situation nicht zu überfordern, ist es wichtig, in die Reflexion zu kommen: „Was bedeutet die Begleitung eines Menschen mit Demenz und was will und kann ich leisten? Man sollte sich auch klarmachen, dass sich in der Beziehung vieles verändern wird. Sich bewusst machen, dass eine neue Rolle, nämlich die des Pflegenden, dazukommt“, erklärt die Familientherapeutin. So weit kämen viele laut der Expertin leider gar nicht. Ihr Fokus liege oftmals nur noch auf dem Erkrankten. Ihre Selbstwahrnehmung ist oft runtergefahren. Und das hat Folgen: Sie gehen in eine Art Kampf gegen die Krankheit. „Doch wer nur in den Widerstand geht und mit irrationalen Glaubenssätzen wie „Ich schaffe das schon!“ oder „Ich bin stark, halte die Normalität aufrecht!“ dagegenhält, wird sich schnell verausgaben“, erklärt Anja Kälin. Sie rät Angehörigen daher, ganz genau auf sich selbst zu blicken: Was macht die neue Rolle mit mir? Sind da noch Trauerprozesse in Gang? Klappt es mit der Akzeptanz der Situation? Gleichzeitig brauchen die Pflegenden auch Perspektiven, die sie nähren wie z. B. demenzfreie Räume mit dem eigenen Hobby. Dazu sind dann Netzwerke wichtig, die am besten früh aufgebaut werden. Grundsätzlich geht es darum, sich selbst zu reflektieren und sich Gelegenheiten zu schaffen, um Sorgen und Gedanken, die einem auf dem Herzen liegen, offen aussprechen zu können.
Wie können die Netzwerke konkret aussehen? „Das können z. B. Freunde oder Bekannte sein, die mit dem Erkrankten ab und zu spazieren gehen. Oder Selbsthilfegruppen, in denen man Tipps austauscht und auch Sorgen loswerden kann“, erklärt Anja Kälin. Spezielle Coachings helfen, im neutralen Raum die Gedanken zu sortieren und individuelle Lösungen zu finden. Desideria Care bietet unter anderem bundesweite und kostenlose Online-Angehörigenseminare an: In einem geschützten Raum tauschen sich Angehörige, moderiert von einer fachlichen Leitung, über ihre täglichen Herausforderungen aus und lernen viel Nützliches im Umgang mit der Erkrankung. Die Demenz-Buddies, ein weiteres Online-Angebot, richtet sich speziell an junge Menschen im Alter zwischen 16 und 25 Jahren, die im direkten familiären Umfeld von Demenz betroffen sind. Ziel ist, ihnen einen sicheren Ort für Vernetzung und Austausch mit Gleichaltrigen sowie lebenspraktische Hilfe zum Leben mit Demenz zu geben – mit Raum für Emotionen ganz ohne Wertung und Vorwurf. Einzelpersonen oder Familien, die sich ungern in der Gruppe austauschen oder auf der Suche nach individuellen Lösungen sind, finden bei einem weiteren Angebot, dem Einzelcoaching, Rat und Unterstützung.
Mehr Infos zu den Angeboten und Anmeldemöglichkeiten gibt es unter desideriacare.de
Gemeinsam etwas verändern
Fotopreis „Demenz neu sehen“ geht in die nächste Runde
Der Verein Desideria Care setzt sich auf verschiedensten Ebenen für eine demenzfreundliche Gesellschaft ein. Dazu gehört auch der Desideria Care Preis für Fotografie „Demenz neu sehen“. Ziel dieses Fotowettbewerbs, der im Jahr 2021 ins Leben gerufen wurde, ist die Erkrankung aus einer neuen Perspektive wahrzunehmen: Aus ganz Deutschland sandten Profi-Fotografinnen, Nachwuchstalente und Amateure ihre besonderen und ungewöhnlichen Augenblicke aus dem Alltag mit Demenz ein. Entstanden ist eine Bildwelt vom Leben mit der Erkrankung. Nicht traurig oder niederschmetternd, sondern lebendig und lebensbejahend, die auf sehr positive Resonanz in der Öffentlichkeit stößt. Noch in diesem Jahr geht der Fotowettbewerb in die nächste Runde: Im Juni 2023 wird „Demenz neu sehen“ erneut ausgeschrieben. Bis Juni 2024 können Profi-Fotografinnen, Nachwuchstalente und Amateure wieder ihre Fotos einreichen, die Menschen mit Demenz in einer positiv aufgeladenen Situation abbilden. Auch dieses Mal wir will Desideria Care als Veranstalterin mit neuen, überraschenden Fotografien die Bildsprache zum Thema Demenz weiter verändern und den Bewusstseinswandel in der Gesellschaft voranbringen.
Über Desideria Care
Desideria Care e.V. wurde 2017 von Désirée von Bohlen und Halbach gegründet. Der gemeinnützige Verein unterstützt und stärkt Familien mit einem Angehörigen, der an Demenz erkrankt ist. Denn von den etwa 1,8 Millionen Menschen mit Demenzerkrankungen in Deutschland werden rund zwei Drittel in der häuslichen Umgebung von Angehörigen betreut und gepflegt. Mit innovativen Angeboten gibt Desideria Care diesen Menschen eine Perspektive. Eckpfeiler hierfür sind Wissen, Selbstfürsorge und Lebensqualität. Desideria Care setzt sich für eine demenzfreundliche Gesellschaft ein, in der Demenz kein Stigma und Tabu ist. Ziel ist es, ein Umdenken in der Gesellschaft zu bewirken und mehr Teilhabe und Lebensqualität für betroffene Familien zu schaffen.
Kontakt
Telefon: +49 89 59 99 74 33
E-Mail: [email protected]
Internet: www.desideriacare.de