Das sagt Prof. Dr. med. Michael Tsokos (57). Im Interview berichtet der international bekannte Rechtsmediziner, Forensiker und Bestsellerautor von seinen alltäglichen Begegnungen mit dem Tod und seiner teils detektivischen Arbeit – nicht nur mit Toten, sondern auch mit Lebenden.
Ich habe bestimmt schon 250.000 Tote gesehen und kenne den Tod in all seinen Facetten. Jede:n sucht der Tod in einem eigenen Gewand auf – angenehm ist sein Besuch nie.
Prof. Dr. med. Michael Tsokos
Rechtsmediziner und Forensiker,
Leiter des Landesinstituts für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin-Moabit,
Bestsellerautor von Sachbüchern, Thrillern und True-Crime-Büchern
Prof. Tsokos, Sie haben als Rechtsmediziner und Forensiker Tag für Tag den Tod vor Augen. Was treibt Sie an?
Ich habe in meinen mehr als 30 Jahren in der Rechtsmedizin bestimmt schon 250.000 Tote gesehen. Eins kann ich Ihnen sagen: Der Tod kommt zu jedem Menschen anders – und ist nie ein angenehmer Besucher. Indem ich den Tod Einzelner untersuche, lerne ich tagtäglich Neues über den menschlichen Körper – und unsere Gesellschaft. Oft weiß ich morgens nicht, was mich am Tag erwartet: Wer wird auf meinem Untersuchungstisch liegen und warum? Woran ist dieser Mensch gestorben – wurde er gar umgebracht? Mich treibt mein Spürsinn. Wie ein Detektiv möchte ich den Todesfall klären. Für mich gibt’s nix Spannenderes. Mein Befund trägt dazu bei, dass in unserer Gesellschaft Rechtssicherheit herrscht. Auch das ist mir wichtiger Antrieb.
Wie wahren Sie die nötige Distanz zum Toten vor Ihnen und zu dessen Tod?
Habe ich einen Leichnam vor mir, ist der nur noch die leere Hülle – die Pilotin oder der Pilot steckt da nicht mehr drin. Mit diesem Wissen kann ich mich sehr gut meiner Aufgabe widmen.
Nehmen Sie Ihren Job manchmal mit nach Hause?
Meist gelingt mir das Abschalten zum Feierabend. Das Zusammensein mit meiner Familie und unserem Hund Fidi erdet mich. Und „zu therapeutischen Zwecken“ schreibe ich meine Bücher und mache ich meine Shows.
Was geschieht im Körper unmittelbar nach dem Tod – und was sagt das der Rechtsmedizin?
Die Rechtsmedizin hat den Tod entschlüsselt. All seine Facetten sind bekannt.
Wenn das Herz aufhört, zu schlagen, sackt das Blut der Schwerkraft folgend ab und rutscht auch aus den Gefäßen heraus: Stirbt jemand auf dem Rücken, bilden sich entsprechende Ansammlungen auf der Rückseite des Leichnams: sogenannte Totenflecken. Ereilt der Tod eine:n im Sitzen, finden sich diese Flecken im Sitzfleisch. Auch die Schleimhaut des Darms wird rasch durchlässig, so dass sich Darmbakterien ungehindert ausbreiten und vermehren können. In Folge setzt rasch Fäulnis ein.
Geraten Sie dann unter Zeitdruck?
Nein. Wir können heutzutage selbst bei starker Fäule und Verwesung noch aussagekräftige Befunde erheben.
Was gehört neben dem Obduzieren von Leichen noch zu Ihrer Arbeit?
Ich starte meinen Tag meist um acht Uhr im Sektionssaal. Für eine Obduktion brauche ich im Schnitt eine bis anderthalb Stunden. Anschließend sitze ich viel am Schreibtisch in meinem Büro: Dort fertige ich das zugehörige Protokoll an, das umfasst etwa 15 Seiten. Außerdem studiere ich die Akten zum jeweiligen Todesfall – eine zeiteinehmende Tätigkeit, die in TV-Serien oft untergeht.
Mit Blick auf die Hinterbliebenen: Was macht den Tod eines Angehörigen besonders belastend?
Bei uns im Institut landen nur Leichname, die die Staatsanwaltschaft beschlagnahmt hat. Wir klären die Todesumstände und sorgen damit für Rechtssicherheit im Staat. Unter unseren Toten sind Opfer und Täter:innen. Die Angehörigen von Opfern wünschen sich meist umfassende Aufklärung zum Tod ihres Menschen. Das hilft ihnen, den Tod zu akzeptieren und zu bewältigen. Zugleich schmerzt gerade die Klarheit sie oft.
Was empfehlen Sie, wenn es angesichts des Todes um die Patientenverfügung oder Organspende geht?
Ich halte eine Patientenverfügung für sehr sinnvoll, habe selbst eine: Denn damit bekommen die Angehörigen klare Handlungsanweisungen in die Hand. Wichtig ist dabei – der Tod meiner Eltern hat mir das gezeigt – die Verfügungen zu respektieren und umzusetzen. Auch für einen Organspendeausweis werbe ich dringend: Den haben hierzulande viel zu wenige. Oft höre ich, dass die Menschen sich sorgen, dass mit ihren Organen im Todesfall Schindluder getrieben werden könnte – oder ihnen diese gar entnommen würden, während sie noch leben. Diese Sorgen sind unbegründet: In Deutschland ist die Organspende ganz klar geregelt.
Hatten Sie einen besonderen Fall auf dem Obduktionstisch, der Ihnen bis heute im Gedächtnis geblieben ist?
Ich wurde im Jahr 2017 auf ein Amtshilfeersuchen der Staatsanwaltschaft Kameruns hin von Interpol gebeten, den Tod des römisch-katholischen Bischofs der dortigen Diözese Bafia, Jean-Marie Benoît Balla, zu untersuchen. Zwei Obduktionen hatten bereits stattgefunden und angeblich Zeichen von Folter und Gewalteinwirkung am Leichnam gefunden. Ich konnte mit meiner Obduktion und nachfolgenden Untersuchungen jedoch belegen, dass der Bischof sein Leben selbst beendet hatte: mit einem Sprung von einer Brücke in den Fluss darunter, in dem er ertrank. Balla hatte sein Auto zuvor auf der Brücke mit eingeschaltetem Warnblinker abgestellt, um andere Verkehrsteilnehmer:innen nicht zu gefährden. Dieses „umsichtige“ Verhalten kannte ich von Menschen, die sich von der Hamburger Köhlbrandbrücke in die Elbe stürzten. Es ist typisch für Menschen, die sich umbringen. Die Kameruner Regierung war froh, dass ich die von der dortigen Bischofskonferenz verbreitete Mordtheorie widerlegen konnte. Hinterher behauptete die Kirche sogar, man hätte mir einen „falschen“ Leichnam vorgelegt – weil ein Selbstmord nicht zum Image passt.
Sie arbeiten nicht nur mit Toten, sondern auch mit Lebenden – was hat es damit auf sich?
Wir Rechtsmediziner:innen stehen nicht nur im gekachelten Raum und obduzieren Leichen. Die klinische Rechtsmedizin ist entscheidend fürs Aufklären von Gewaltdelikten. 800 bis 1.000 Fälle Opfer von Gewalttaten untersuchen wir allein in Berlin im Jahr. 2014 gründete ich die erste Gewaltschutzambulanz in Berlin. Dort können Opfer von Gewalttaten Spuren gerichtsfest dokumentieren lassen, ganz gleich, ob es zu einer Anzeige kommt oder nicht. Aufgrund meiner Arbeit kenne ich die schockierend hohe Fallzahl von Kindesmisshandlungen, die hierzulande leider noch immer Tag für Tag geschehen und weitgehend tabuisiert werden. Als Botschafter des Deutschen Kindervereins setze ich mich deshalb aktiv für Kinderschutz ein. Das ist mir als Vater von fünf Kindern Herzenssache.
BUCHTIPP
Prof. Dr. Michael Tsokos lesen und live erleben!
Zum neusten Buch: „Mit kaltem Kalkül. Ein Rechtsmedizin-Thriller“
(erschienen 2024 im Verlag Knaur TB)
Erlebe die Spannung auf 368 Seiten
ISBN: 978-3-426-52872-3
Informationen zur aktuellen Show und Tickets: