Über Krankheiten der Psyche reden wir nicht genug. Schlimmer noch: Depressionen, Angststörungen oder Schizophrenie tabuisieren und davon Betroffene stigmatisieren wir häufig. Dr. Leon Windscheid (36) erklärt im Interview, wie wir das Tabu brechen und die Stigmata abbauen können. Zudem zeigt der Psychologe, Unternehmer, Podcaster, Moderator und Autor bewährte Strategien zur Stressbewältigung auf.
Mehr als jede:r vierte Erwachsene und jedes fünfte Kind in Deutschland leiden innerhalb eines Jahres an einer psychischen Erkrankung. Damit müssen wir uns dringend auseinandersetzen.
Dr. Leon Windscheid
Psychologe, Unternehmer, Podcaster,
Moderator und Autor
Foto: Jonathan Welzel
Dr. Windscheid, wie enttabuisieren und entstigmatisieren wir psychische Krankheiten, um Betroffene zu unterstützen?
Indem wir – Betroffene und nicht Betroffene – uns zuallererst klar machen, dass es in Deutschland Millionen Menschen mit psychischen Erkrankungen gibt. Der Anteil der Erwachsenen hierzulande, die innerhalb eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung erfüllen, liegt bei besorgniserregenden 27,8 Prozent1. Das sind etwa 18 Millionen Menschen – so viele, wie in ganz Nordrhein-Westfalen2 leben. Ebenso besorgniserregend: Bei Kindern und Jugendlichen sind es 20 Prozent3, die innerhalb eines Jahres an einer psychischen Störung erkranken.
Betroffenen zeigen diese hohen Prozentsätze: Ich bin nicht allein mit meiner Krankheit. Uns allen zeigen sie: Psychische Erkrankungen sind kein Randphänomen unserer Gesellschaft – jede:r kann psychisch erkranken. Die große Betroffenheit bedeutet: Wir müssen dringend über psychische Krankheiten reden und uns damit auseinandersetzen. Wir müssen uns alle darin schulen, am besten schon in der Schule, uns nicht nur körperlich, sondern auch psychisch gesund zu halten. Wenn prominente Gesichter wie Kurt Krömer, Torsten Sträter oder Nora Tschirner dann noch voran gehen und ihre psychischen Erkrankungen öffentlich machen, tragen sie mit dazu bei, dass das Tabu gebrochen und Stigmata abgebaut werden.
Welche Strategien zur Stressbewältigung empfehlen Sie, um in einer Zeit psychisch stabil zu bleiben, in der berufliche, private und mediale Anforderungen sowie globale Herausforderungen viele Menschen zunehmend unter Druck setzen?
Die Anforderungen an uns alle sind sehr hoch und steigen stetig – im Job, im Bett, auf der Yogamatte, bei Instagram. Die meisten begegnen dem Stress, den der wachsende Anforderungsdruck ihnen bereitet, eher problemorientiert. Sie wenden sich einem Problem nach dem anderen zu, um diese zu lösen. Doch was tun, wenn ein Problem nicht lösbar ist? Oder bei zu vielen Problemen auf einmal? Dann hilft uns der Fokus auf die Gefühle weiter, die die Probleme in uns wecken: Ärger, Wut, Sorge, Angst und andere. Wir müssen lernen, Unabänderliches ebenso wie Unperfektes als solches anzunehmen, lernen, die aufkommenden negativen Gefühle auszuhalten und auszubalancieren. Denn eine schiefe Gefühlslage macht uns auf Dauer psychisch krank. Und auch das muss selbstverständlich werden: Gelingt uns die Balance nicht selbst, ist es keine Schande, sich Hilfe zu holen.
Gerade jungen Menschen wird der gesellschaftliche Drang nach Perfektion zum Verhängnis. Mehr und mehr von ihnen fühlen sich nicht gut genug. Die Zufriedenheitskurve der Bevölkerung in Industrieländern verläuft in der Regel u-förmig: Junge und Alte sind mit ihrem Leben demnach zufriedener als die Menschen im Alter dazwischen.
In den USA ist das U inzwischen keins mehr. Für Europa deutet sich eine ähnliche Entwicklung an: Junge Menschen sind immer unzufriedener und unglücklicher. Das besorgt mich sehr. Und es treibt mich an, mit meinen Büchern, Shows und Podcasts zu unterstützen, wo ich kann. Meine neue Show „Alles Perfekt“ 4, mit der ich ab Ende November toure, dreht sich um den übertriebenen Anspruch an uns. Ich möchte dazu anregen, einen neuen Blick auf uns selbst zu werfen und zu erkennen, dass dann alles perfekt ist, wenn wir akzeptieren, dass niemals alles perfekt ist.
Viele Menschen, die an Depressionen oder Burnout leiden, fühlen sich allein, schuldig oder als hätten sie „versagt“. Wie kann man mit diesen Gefühlen klarkommen?
Das Gefühl, alleine zu sein, schildern mir viele Betroffene. Ich höre auch oft, wie psychisch angeschlagene Menschen ihr Leid ignorieren („Psychisch krank – ich doch nicht!“) oder unterdrücken („Stell dich nicht so an!“) – und beobachte, wie sie trotz zunehmendem Leidensdruck weitermachen wie gehabt, weil unsere Leistungsgesellschaft ihnen Leistungen abverlangt. Schluss damit!
- Ändern Sie bewusst, wie Sie über sich denken und wie Sie mit sich reden. Fragen Sie sich: Was würde ich meiner besten Freundin oder Freund in dieser Lage sagen? Wie würde ich mein Mitgefühl ausdrücken?
- Richten Sie dieses Mitgefühl auch auf sich! Legen Sie jedes Mal eine Selbstmitgefühl-Pause ein, wenn Sie sich dabei ertappen, dass Sie sich abwerten oder beschuldigen. Es hilft, diese Pause zu ritualisieren, beispielsweise mit einer Geste wie Hand aufs Herz oder mit einem Schlüsselwort. Unterbrechen Sie so Ihr eingefahrenes Denk- und Verhaltensmuster und trainieren Sie sich in Selbstwertschätzung!
Betroffenen rate ich im ersten Schritt, mit jemandem zu sprechen. Mir ist klar, dass es Überwindung kostet, sich einer Freundin oder einem Freund, den Eltern, der Hausärztin oder dem Hausarzt anzuvertrauen.
Doch psychische Krankheiten sind weder nebulös noch mysteriös. Im Gegenteil: Es gibt klare medizinische Kriterien dafür. Den Gang zu Psychologinnen und Psychologen sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten als zweiten Schritt scheuen noch viel zu viele, weil sie sich vor einer Diagnose fürchten. Dies leider auch wegen noch immer weit verbreiteter Vorurteile. Doch seien Sie versichert: Die Fachleute wollen niemanden „in eine Zwangsjacke stecken“ und „in die Klapsmühle bringen“. Sie wollen und können verstehen, was mit einer:m los ist. Und vor allem: Sie wollen und können die gegebenenfalls diagnostizierte psychische Erkrankung wirkungsvoll behandeln. Ich weiß von Betroffenen, wie erleichternd eine Diagnose wirkt: Endlich hat das Ganze einen Namen! Endlich lässt sich etwas gegen das Leiden tun!
Auch Angehörige von psychisch Erkrankten kennen diese Isolation, Schuldgefühle und Versagensängste…
Ich beobachte viele Angehörige, die sich hingebungsvoll um ihr psychisch krankes Kind oder ihre:n psychisch kranke:n Partner:in kümmern. Aber: So manche:r verausgabt sich dabei. Diesen Menschen sage ich: Passen Sie gut auf sich auf! Sie sind Angehörige – kein:e Therapeut:in! Sie können Ihren Erkrankten helfen, eine Diagnose zu bekommen, einen Therapieplatz zu finden und die Therapie zu bewältigen. Sie haben dabei aber nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, sich um sich zu kümmern, um unter der Last dieser Aufgabe nicht selbst zu verkümmern.
Als Psychologe blicken Sie tief in die menschliche Psyche. Welche Rolle spielt die psychische Stabilität der:s Einzelnen für unser kollektives Wohlbefinden?
Bitte, lassen Sie uns diesen Druck gar nicht erst machen: Wir müssen psychisch Erkrankten nicht auch noch das gesamtgesellschaftliche Wohlbefinden auflasten. Im Gegenteil: Es ist Aufgabe der Gesunden, dafür zu sorgen, dass sich jede:r in unserer Gesellschaft wohlfühlt und gleichberechtigt daran teilhaben kann.
Gab es in Ihrem eigenen Leben Momente, in denen Sie die von Ihnen empfohlenen Strategien selbst anwenden mussten, um Ihre mentale Gesundheit zu stabilisieren?
Na klar. Beim Schreiben meines Buches „Besser fühlen“5 wollte ich kurz vor der Deadline alles hinschmeißen. Ich fand das, was ich bis dahin geschrieben hatte, nicht gut genug.
In dieser Gefühlskrise rief ich meine Eltern an und meine Mutter sagte mir: „Leon, ruf den Verlag an und bitte um Aufschub. Sag, dass du am Buch sitzt, es ganz sicher beendest, aber dafür mehr Zeit brauchst.“ Ich befolgte den mütterlichen Rat und die Deadline wurde verschoben – eine problemorientierte Lösung. Als dieser Termindruck wegfiel, konnte ich mich auch meinen Gefühlen widmen, mich aufbauen und mein Manuskript beenden.
„ALLES PERFEKT“
Dr. Leon Windscheid geht mit neuem Programm auf Tour!
Für Weitere Informationen besuchen Sie die Webseite von Dr. Leon Windscheid:
Quellen
1 https://www.dptv.de/fileadmin/Redaktion/Bilder_und_Dokumente/ Wissensdatenbank_oeffentlich/Report_Psychotherapie/DPtV_Report_Psychotherapie_2021.pdf
2 https://www.it.nrw/nrw-einwohnerzahl-auch-im-erstenhalbjahr-2023-bei-ueber-18-millionen
3 https://www.bptk.de/pressemitteilungen/fast-20-prozent-erkranken-an-einer-psychischen-stoerung/
4 https:// leonwindscheid.de/
5 https://www.rowohlt.de/buch/dr-leon-windscheid-besserfuehlen-9783499003776